Ein Kindheitstrauma. Wöchentlich Dienstags um 14.15 Uhr muss ich die Gruft des Grauens betreten.
Es ist ein Hanghaus. Nach Osten ausgerichtet, daher mit nur 2 bis 4 Sonnenstunden am Tag gesegnet, mit dem Rücken nach Westen zum Hang und zur Straße hin. Neben dem Haus führt eine glitschige, 50 cm breite, efeubewucherte Betontreppe mit moosigem Handlauf ums Haus herum ins Erdgeschoss. Das nur auf der Ostseite eines ist. Der hintere Teil ist in den Hang eingegraben und damit Keller (des Grauens). Wer die Treppe ohne Genickbruch nach unten kommt wird drinnen von Perserteppichen, Cordmöbeln, Samtvorhängen und sonstigen Stoffarten, die so wunderbar viel Feuchtigkeit speichern können, empfangen.
Ein moosig-erdig-schimmliger Geruch liegt in der Luft. Durchtränkt von Hund, mit der Note „2 Jahre nicht gewaschen“ und heute morgen beim Gassi nass geworden. Eben dieser hüfthohe Mischling mit langem verklebtem Fell und nur noch 3 Zähnen im Maul liegt in der Ecke auf der ockerfarbenen Cordcouch und klopft gelangweilt zweimal mit dem Schwanz zur Begrüßung. Selbstverständlich hat er ein paar Brocken Trockenfutter vom Frühstück übrig gelassen, die im Futternapf angelutscht vor sich hinvegetieren und das Geruchserlebnis perfekt machten.
Eine ältere Dame mit strengem Haarknoten betritt den Raum und riecht ergänzend nach Mottenpulver, Lavendel und Rosenhandcreme. Die Dame des Hauses trägt selbstverständlich einen knöchellangen Tweed-Rock sowie eine Bluse mit Stehkragen und Rüschen. Eine Halbbrille an der Kette und ein Amulett mit Kinderfotos um den Hals.
Um 14.15 Uhr ist Brotzeit. Ob ich da bin oder nicht, spielt keine Rolle. Denn eine Dame isst bereits um 11 Uhr zu Mittag. Es gibt – wie immer – eine (handbemalte) Tasse (mit Goldrand) Earl Grey mit Kandis und ein Leberwurstbrot. Mit grober Leberwurst und ohne Rinde. Denn das lose sitzende Gebiss, das bei jedem Bissen ein Geräusch wie eine nasse Duschmatte macht, würde die Rinde nicht schaffen. Natürlich fügt sich auch die grobe Leberwurst ganz wunderbar in den Gesamtgeruchseindruck ein.
Es gibt Menschen im pädagogischen Bereich, die das unfassbare Talent haben, einem gewisse Dinge für nahezu ein Leben lang zu verderben. Das Problem an der Gruft des Grauens: im hinteren Teil des Raumens steht ein Klavier. An dem ich für 45 Minuten (mit der Taschenuhr des verstorbenen Mannes gestoppt) Platz nehmen, mir 5-Mark-Stücke auf die Handrücken legen und Tonleitern üben muss. Jahrelang.
Das ist der Grund, warum ich heute nicht Klavier spielen kann.
„What’s too painful to remember / We simply choose to forget“, hat Barbra Streisand mal gesungen. Darum hab ich kürzlich bei ähnlichen Gedanken zum Thema eher das Postitive rausgekehrt.
Aber stimmt – die negativen Gerüche brennen sich genau so ein. Bei mir hat das Aroma von Grünkohl meine völlige Abneigung gegen Weihnachtsmärkte besiegelt…
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.. wie es immer so ist, es hat wohl mit unserer medialen Erziehung zu tun, dass negatives schwerer wiegt als positives.
Vielen Dank für den Zug am Ohr. 😉
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