Blaue Doppelhäkchen und andere Katastrophen

Blaue Doppelhäkchen – voher waren sie grün. Derzeit in aller Munde, weil What’s App nun anzeigt, ob die Nachricht gelesen wurde, die wir losgeschickt haben. Gelesen ist relativ. Die Häkchen sagen nur: die Nachricht wurde auf irgendeinem Endgerät angezeigt. Ob die Augen tatsächlich auf dem Gerät waren, ob die Nachricht nur überflogen, gelesen, für später hinterlegt oder tatsächlich verstanden wurde? Ganz egal.

Blaue Häkchen kann allerdings bedeuten: „Ha, sie hat’s gesehen und antwortet nicht!“ Das birgt ein riesiges Potenzial an Gründen für Zickigkeit und interhumanitäre Dramen, falls wir uns welche konstruieren wollen. Denn es kann eine Menge hineininterpretiert werden, in diese Häkchen, die sich blau färben aber eine sofortige Antwort missen lassen. Ist sie sauer? Ignoriert sie mich? Vielleicht hat sie was besseres zu tun? Ich bin ihr vielleicht gar nicht Wert, dass sie sich mit mir befasst? Hach, fast mag ich sie, die blauen Häkchen und ihre Macht.

Was mir daran schleierhaft bleibt: warum regen wir uns auf, wenn unsere Nachrichten gelesen werden oder noch schlimmer, wenn angezeigt wird, ob wir eine Nachricht einer anderen Person gesehen haben? Kommunizieren wir nicht deshalb, dass unsere Nachrichten irgendwen erreichen?
Was uns diese blauen Häkchen allerdings tatsächlich nehmen ist eine Option auf eine Ausrede: Für den Fall, dass wir einfach so tun wollen, als hätten wir die Nachricht niemals gesehen.

Aus meiner Sicht ist das Problem tatsächlich keines. Denn: In einer realen Unterhaltung kommt die Nachricht in der Regel ja auch an, sobald sie ausgesprochen wurde. Ohne Häkchen. Und es ist uns jederzeit freigestellt, eine Antwort zu geben.
Schlimmer ist doch tatsächlich die Erwartungshaltung die hinter diesen blauen Häkchen steht. Dass unser Gegenüber zu jederzeit erwartet, dass wir zusammen mit oder ohne blaue Häkchen sofort eine irgendwie geartete Reaktion senden. Ganz egal ob wir gerade essen, in der Badewanne liegen, mit dem Bus fahren, etwas arbeiten oder uns mit anderen Menschen unterhalten.

Mir persönlich sind blaue, grüne oder gelbe Häkchen egal. Ich lese meine Nachrichten, wenn ich Zeit dafür und Lust darauf habe und mit Antworten halte ich es genauso. Es ist in der Regel so, dass meine blauen Häkchen ohne sofortige Antwort keine Ignoranz bedeuten. Sondern Respekt. Weil ich eben nicht zwischen zwei Bushaltestellen oder zwei Pfannkuchen eine lapidare Antwort zurückschicken will, sondern mir in manchen Fällen Zeit für die Antwort nehmen möchte.
Oder ich rufe sogar an. Was leider die Häkchen nicht umfärbt. Aber das kommt sicherlich noch.

Das dumme Kind.

„Das Kind ist hinterher.“ War das zentrale Thema einer abendfüllenden Unterhaltung der „besseren Gesellschaft“. Am Tisch: 4 Karriere-Frauen. Und ich. Wie auch immer ich dahin geraten war. Nun war ich eben hier.
Nicht, dass ich mich nicht zu den Karriere-Frauen zählen würde – denn ich bin durchaus höchst zufrieden mit meiner Entwicklung – aber Ihr könnt Euch bildlich vorstellen, welchen Typus ich meine. Frauen, die alles unter einen Hut bringen. Gutes (nun ja, gehobenes) Elternhaus, das man auch gerne mit sündhaft teurer Klamotte zum Ausdruck bringt, die leider mindestens 10 Jahre älter macht, dafür aber kleine Krokodile, YSL’s oder Polospieler aufgestickt hat. Da ist es auch völlig egal, ob pink und lila dem eigenen Teint schmeichelt. Viel wichtiger ist die Hey-ich-kann’s-mir-leisten-Aussage.
Dazu ein Mann. Nicht zwingend ein liebenswerter, bodenständiger und einfühlsamer Kerl mit ähnlichen Interessen, dafür aber einer mit Status und Geld. Und einem Job auf der Visitenkarte, der in der Damenrunde beim „Wer-bin-ich-und-was-hab-ich-Quartett“ sticht. (Kennt Ihr noch dieses Autoquartett? Daran fühle ich mich in solchen Runden immer erinnert.)
Unternehmensberater sticht Assistenzarzt. Patentanwalt sticht Ingenieur. Und Tiffany-Klunker sticht Verlobungsring aus dem Kaugummiautomaten. Natürlich.
Nun ist es an der Zeit, dass die Dame neben dem Studium an der Privatuni und ersten Erfolgen im Job auch ein Kind mit in den Ring wirft. Denn die guten Gene müssen weitergegeben werden. Und es gibt ein Familienmitglied mehr, für das man viel Geld für Klamotten und Equipment ausgeben und das man später auch im Quartett zücken kann.

Das akute Problem allerdings nun: „Das Kind ist hinterher.“ Denn es kann mit 14 Monaten nicht laufen. Ein Drama. Alle am Tisch sind schockiert. Wie kann das sein? Bei zwei dermaßen intelligenten Eltern? Und der frühkindlichen Sprachförderung durch die japanische Nanny? Sie waren doch auch immer beim Babyschwimmen und überhaupt? Und jetzt stellt Euch das vor: wie peinlich. Das einzige Kind in der Krippe das noch nicht laufen kann. Dabei hat man alles erdenkliche getan?
Der zugehörige Unternehmensberater-Vater hat einen Vaterschaftstest angeordnet. Denn es kann wohl nicht sein, dass „das dumme Kind“ seinem Gen-Material entstammt.

Ich finde: es ist ein sehr schlaues Kind. Ich würde auch einfach liegen bleiben. So lange, bis mich alle so behandeln wie ich eben bin: Ein Baby mit 14 Monaten. Und vor allem, bis vielleicht jemand erkennt, dass ich ein bisschen Nähe, Liebe und Zuneigung viel dringender brauche, als einen Strampler mit aufgesticktem Krokodil, Ralph Lauren Schuhe (ich kann sowieso nicht laufen… ) und frühkindliche Förderung.
Lafen kann ich später immer noch.

Der Gelbwurst-Effekt

Ein Kunde vor 14 Tagen: „wo stehen wir?“ (ganzer Inhalt der Mail – kein guten Tag, kein Auf Wiedersehen, kein Gruß, kein Nichts.)
Ich: … „diesbezüglich erwarte ich Ihr Feedback“ … (Auszug aus meiner Nachricht, Kunde hat seit 3 Wochen nicht auf meine Konzepte reagiert – er sollte sich zwischen 3 Varianten entscheiden)
Kunde: „dann schicken sie’s halt nochnmal“ (ganzer Inhalt der Mail – kein guten Tag, kein Auf Wiedersehen, kein Gruß, kein Nichts.)
Also sende ich meine Mail nochmal. Natürlich mit Guten Tag, mit frohen Wünschen und einem Auf Wiedersehen.
Kunde: „schau ich mir an.“ (ganzer Inhalt der Mail – kein guten Tag, kein Auf Wiedersehen, kein Gruß, kein Nichts.)
Stille. Zwei Wochen vergehen.
Heute der Kunde: „wo stehen wir?“ (… ? … )

Immer wieder schleicht sich die Frage in meinen Kopf, warum wir mit Zauberwörtern immer sparsamer werden.
Meine Oma brachte mir schon bevor ich richtig laufen konnte bei, dass man sich für die Scheibe Gelbwurst an der Wursttheke (für die Veganer unter uns: die Karotte am Gemüsestand) mit „Danke“ erkenntlich zeigt. Vorher durfte ich nicht abbeissen. In der Apotheke das gleiche Bild. Wollte ich einen Traubenzucker geschenkt bekommen, musste ich auf die Taschenablage klettern, mit großen Augen gucken und „Bitte“ sagen. Aber erst dann, wenn der Apotheker nicht mehr im Gespräch war. Hat immer funktioniert. Und genau diese Erziehungseffekte sollten doch gewirkt haben? Nicht dass ich heute durchgängig noch Gelbwurst oder Traubenzucker geschenkt bekomme (manchmal aber doch).

Vielleicht sende ich meinem Kunden eine Scheibe Gelbwurst in der Hoffnung, dass alte Gewohnheiten reaktiviert werden können.