Eine gesunde Portion Sozialphobie.

Überdosieren wir soziales Leben, mutiert das in eine Art Abneigung und Rückzugspanik. Vielleicht bin ich in dieser Hinsicht nicht ganz normal, aber ich gönne mir gerne eine kleine Sozialphobie.
Früher hatte ich eine „Zum-Glück-ist-sie-nicht-meine-Schwiegermutter“. Zu Ostern, Geburtstag, Weihnachten und sonstigen Anlässen wurden mindestens 4 Tage sozial verbracht. Mit der ganzen Familie. Mich eingeschlossen.
Wenn ich ehrlich bin, halte ich solche Zusammenkünfte verschiedenster Charaktere aus unterschiedlichsten Generationen – falls sie nicht durch Pausen unterbrochen werden – für Folter.

Das soll nun nicht so klingen, als würde ich mich nicht gerne austauschen. Unterhalten. Neugierig sein. Zusammen sitzen. Reden. Lachen. Neue Menschen und deren Leben kennenlernen. Sichtweisen verstehen, oder eben nicht, und sich die Köpfe heiß reden. Sicherlich eines meiner größten Hobbies. Meine Familie sehe ich gerne, ebenso Freunde und Verwandte. Gerne wohldosiert.
ABER: schon morgens, während ich noch im Standby-Modus mit der Zahnbürste vor dem Spiegel im Bad stehe, springt die Tür auf und „Zum-Glück-ist-sie-nicht“ kommt mit den Worten „es macht Dir doch nix, wenn ich schon mal dusche….“ Äh. „Weisst Du, ich finde das nett, wenn wir alle so zusammen….“ plaudert es aus der Dusche. Dies ist einer der intimen Momente, die ich lieber vermieden hätte.
In der Küche angekommen ist Tante y an der Kaffeemaschine zugange. „Willst Du auch einen?“ Nein, danke, gerade noch nicht, gerne später. „Ach, dann kannst Du schon mal den Schinken…“ und schon habe ich ein Paket aus dem Kühlschrank plus Platte plus kleiner Gabel im Arm. Während ich mit starrem Blick – immer noch nicht wach – den Schinken auf die Platte sortiere, wuseln 10 andere Verwandte wie wild durch die Gegend und versuchen, in einem fremden Haushalt, den Frühstückstisch zu decken. „Sag mal, wo ist das Brotmesser?“ Äh. „Wir gehen nachher Spazieren, kommst schon mit, ja?“ Äh. „Mag jemand Preiselbeeren?“ Äh. „Trinkt jemand Tee?“ Äh. „Wer hat den Schinken?“ ich.
Tante z meint „ist was?“ Nein, wieso? „Du bist so still?“ Äh. Nein, ich bin nur noch nicht wach und es reden sowieso alle anderen wild durcheinander. Es würde sicher keinen Sinn machen, das nun auszudiskutieren.
„Kaffee?“ Ja, gern, ergebe ich mich. Währenddessen wird mir die kleine Mia inclusive Gläschen und Löffel auf den Schoß gedrückt. „Du magst doch Kinder?“ Äh. „Wann ist es denn bei Dir soweit?“ ÄHH? „In Deinem Alter solltest Du schon…..“ Puh.
Um die kleine Mia bin ich ganz froh, denn sie ist total auf ihr Apfelmus fixiert und ich kann mich wunderbar auf den Löffel konzentrieren und ihr nach und nach das Gläschen füttern. Sie möchte nicht mit mir reden. Das gefällt mir.

Nach dem Brunch – der ca. 3 Stunden in Anspruch nahm – wird Spazieren gegangen. Also: es müssen 13 Verwandte incl. kleiner Kinder in Outdoor-taugliche Kleidung verpackt werden. Wildes wuseln, hin- und hergelaufe. So langsam setzt Atemnot ein, weil ich schon seit 45 Minuten im Mantel in der Tür stehe. Mia braucht nun doch noch eine frische Windel, dann können wir auch schon los. In Onkel-Albert-Geschwindigkeit, er ist schon ein wenig älter, geht es dann um den Block. Pardon, bis zur nächsten Hausecke, denn Tante y hat ihr Kopftuch vergessen und Schwägerin b den Schnuller für Mia und wir treffen auch noch eine Nachbarin, der die ganze Verwandtschaft, mit begeistertem „mei, bist Du groß geworden“ und in die Backe kneifen vorgestellt wird.

Von diesen Anekdoten passieren noch ca. 25, bis es – nachdem es Mittagessen und Kaffee und Brotzeit gab – auch schon ins Lokal zum Abendessen geht. Denn schließlich haben alle Hunger (zu haben).

Und ich? Ich beschließe, meine Sozialphobie zu pflegen und lese ein Buch. Auf der Terrasse. Mit einer dicken Decke in der Hollywoodschaukel, wo mich so schnell keiner suchen kommt. Den ab und zu tut es gut, einfach alles auszumachen und sich auf die Stille zu konzentrieren.

Werbung